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Autismus ist eine „Lebensschule“ für uns alle

Autismus ist eine „Lebensschule“ für uns alle

Sie leben oft ungesehen vor den Augen der Öffentlichkeit – Menschen, die an Autismus leiden. Die Diagnose wirft besonders Eltern kleiner Kinder oft aus der Bahn, lässt Lebensplanungen scheitern. Was es braucht, sind Hingabe und Unterstützung – und unbedingt ein Kompetenzzentrum für Autismus in Südtirol, so der Wunsch zum Welt-Autisums-Tag.

 

Südtirol Online: Am 2. April ist Welt-Autismus-Tag. Was bedeutet der Tag für Menschen mit Autismus?
Angelika Stampfl, Ansprechspartnerin des Arbeitskreises Eltern Behinderter für Menschen mit dem Spektrum Autismus und Mutter einer betroffenen Tochter: Die Öffentlichkeit soll auf die individuelle, wie gesellschaftliche Aufgabenstellung aufmerksam gemacht werden. Die Dachorganisation „Autism Europe“ hat sich das Motto „Respekt, Akzeptanz und Inklusion“ zum Ziel gemacht.

STOL: Wie sehr ist die Bevölkerung generell über Autismus informiert?
Stampfl: Anhand von Tagungen, Fortbildungen, Expertenunterricht sind Informationen weitergegeben worden. Die Bevölkerung hat aber immer noch großen Bedarf über Autismus informiert zu werden.

STOL: Wie viele Betroffene gibt es in Südtirol?
Stampfl: Vier bis fünf von 10.000 Kindern sind statistisch vom frühkindlichen Autismus betroffen. Daher muss in Südtirol mit etwa 200 Kindern und Jugendlichen gerechnet werden; ca. 110 werden derzeit im Gesundheitssprengel Bozen, 60 in Meran, rund 20 in Bruneck und Brixen behandelt. Das ist auf Rückmeldung der zuständigen Fachleute bekannt.

STOL: Wie äußert sich die Erkrankung?
Stampfl: Die Symptome des frühkindlichem Autismus zeigen sich bereits vor dem 3. Lebensjahr und äußern sich in drei Bereiche besonders deutlich:

im sozialen Umgang mit Mitmenschen
in der Kommunikation
in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen
STOL: Warum spricht man hier vom „Spektrum“ Autismus?
Stampfl: Autismus Spektrum Syndrom – kurz ASS – gilt als Oberbegriff für das gesamte Spektrum autistischer Störungen. Aktuell wird zwischen frühkindlichem Autismus, Asperger Autismus und atypischem Autismus unterschieden. Die Unterscheidung fällt jedoch immer schwerer, da in der Praxis zunehmend leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder auftreten und somit der Ausdruck „Autismus Spektrum Syndrom“ angewandt wird.
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Ihre Hauptsymptome sind abnorme soziale Beziehungen, Mangel an normaler Kommunikation und eingeschränkte Interessen sowie Aktivitäten.

STOL: Wie weit/schwierig ist der Weg bis zur Diagnose?
Stampfl: Es ist schwierig, da zu Beginn die Symptome nicht so sehr einzuordnen sind. Im Unterschied zu früher kann die Diagnosestellung heute von den Fachleuten aber schneller erstellt werden.
Sehr schwierig für die Eltern ist die Annahme zu akzeptieren, ein Kind mit Beeinträchtigung zu haben. Durch eine frühzeitige Erkennung des Autismus kann dem betroffenen Kind aber schneller geholfen werden.

STOL: Was bedeutet es für Eltern, wenn sie bezogen auf ihr Kind mit der Diagnose konfrontiert werden?
Stampfl: Die Diagnose Autismus ist eine sehr schwere Diagnose – die Eltern können in ein tiefes Loch fallen. Die Lebensplanung muss anders gestaltet werden.

STOL: Warum ist eine Früherkennung wichtig?
Stampfl: Die Früherkennung ist äußerst wichtig. Es kann früher mit den Therapien begonnen werden – die Kinder können früher adäquat gefördert werden.

Eine Früherkennung ist wichtig für die Förderung. – Foto: shutterstock

STOL: Auf welche Ursachen ist Autismus zurückzuführen?
Stampfl: Es existiert zurzeit keine allgemeingültige Ursache. Grundsätzlich lassen sich die Ursachen des Autismus nach drei Kriterien unterscheiden Genetik/Vererbung, Neurologie und Umwelteinflüsse.

STOL: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Stampfl: Es gilt, am Verhalten, der Kommunikation und der sozialen Interaktion des autistischen Kindes mit der Therapie anzusetzen. Autistische Menschen brauchen viel Struktur und Sicherheit, benötigen Hilfe in der Kommunikation. Dazu stehen einige erprobte Therapieformen zur Verfügung. Die wichtigsten sind derzeit Teacch, ABA unterstützte Kommunikation.

STOL: Was bedeutet die Erkrankung für Betroffene, Angehörig im Alltag?
Stampfl: Autismus erfordert einen gut strukturierten Alltag – von den betreuenden Personen fordert er viel Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen. Für die Betroffenen bedeutet ein Leben mit Autismus höchste Anstrengung – laut Aussage einer autistischen Person „ich bin in einem Dauererregungszustand“.

STOL: Ist es für autistische Menschen möglich, am alltäglichen Leben teilzunehmen?
Stampfl: Es ist sehr wohl möglich für einen autistischen Menschen am alltäglichen Leben teilzunehmen. Wenn er gut gefördert wird, wenn er gut strukturiert wird. Es ist wichtig zu wissen, wie man mit autistischen Menschen umgehen muss!

STOL: Wie sehr brauchen autistische Menschen eine einzelne Bezugsperson, die sie durchs Leben geleitet?
Stimpfl: Autistische Menschen brauchen mehrere Bezugspersonen, die wissen, wie mit einem autistischen Mensch umzugehen ist, wie diese „ticken“.
Eine einzelne Bezugsperson ist zu wenig, wenn diese ausfällt, so hat der autistische Mensch große Probleme sich sofort spontan an eine neue Betreuungsperson zu gewöhnen.

Menschen mit Autismus brauchen mehr als eine Bezugsperson. – Foto: shutterstock

STOL: Was hat es mit den so genannten Inselbegabungen auf sich?
Stampfl:Häufig wird bei Autisten – oder genauer bei Menschen mit ASS – eine spezielle Fähigkeit festgestellt. Viele Autisten sind in der Lage, in einem bestimmten Bereich ihres Lebens oder Alltag eine außergewöhnliche Leistung zu erbringen.
Die speziellen Fähigkeiten, die sieaufweisen, können sich in besonderen kognitiven Fähigkeiten oder in Form von musikalischem oder künstlerischem Talenten zeigen. Unter kognitiven Fähigkeiten verstehen sich besondere Gedächtnisleistungen, so wie z.B. Daten und Termine speichern und merken. Diese Fähigkeiten werden auch Savant Syndrom genannt.

STOL: In wie weit können autistische Menschen in die Arbeitswelt einbezogen werden?
Stampfl: Es hängt von Schweregrad des Autismus ab – einige können mit guter Förderung und Strukturierung in die öffentliche Arbeitswelt integriert werden, andere, die eine schwere Form des Autismus haben, können nur im geschütztem Rahmen ihre Arbeit verrichten.

STOL: Gibt es Tagesförderungseinrichtungen in Südtirol, die sich gezielt mit Autismus beschäftigen?
Stampfl: In den öffentlichen Einrichtungen und Strukturen werden auch Menschen mit Autismus betreut und beschäftigt. Ausschließlich mit Autisten befassen sich in Meran der Verein AutóS, in Bozen der Verein Cerchio, in Brixen die Gruppe Efeu und in Bruneck der Autistenhort. Weitere Informationen können auch über die Selbsthilfegruppe Victor eingeholt werden.

STOL: Wo finden Betroffene, Angehörig Hilfe?
Stampfl: Hilfe finden die Eltern in erster Linie in den Rehabilitationszentren der Sanitätseinheit, Unterstützung in den oben genannten Vereinen Cerchio und AutóS sowie dem Arbeitskreis Eltern Behinderter (AEB).

STOL: Was wünschen Sie sich zum Welt-Autismus-Tag?
Stampfl: Es bräuchte in Südtirol das vom AEB angestrebte Kompetenzzentrum für Autismus als Anlaufstelle für alle, die Hilfe für autistische Menschen brauchen.

STOL: Gibt es hinsichtlich des Kompetenzzentrums bereits konkrete Schritte?
Stampfl: Es gab konkrete Schritte. Am 7. Mai 2010 fand auf Landesebene ein runder Tisch statt, um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung aller Dienste für Diagnostik (besonders Frühdiagnostik), Beratung, Förderung, Rehabilitation, Therapie, Kindergarten, Schule und soziale Einrichtungen zu erlangen. Im Landhaus 12 stellte die Arbeitsgruppe für Autismus des AEB den Vertretern verschiedener Ämter einen Forderungskatalog, bzw. eine Charta mit einer Auflistung von 11 Punkten vor.

STOL: Wie stellen Sie sich eine mögliche Umsetzung vor?
Stampfl: Ich könnte mir vorstellen, dass es an bereits bestehenden Vereinen angeschlossen und dort auf- und ausgebaut werden könnte (z.B. beim Cerchio). Von Kleinkind bis Erwachsenenalter hätte man die Möglichkeit, Informationen und Hilfe für weiterführende Maßnahmen bzgl. Autismus zu erlangen.

STOL: Was können wir alle von Menschen mit Autismus lernen?
Stampfl: Wir können von ihnen viel lernen, wenn wir uns auf sie einlassen. Menschen mit Autismus betreiben mit uns eine „Lebensschule“. Wir lernen Selbstdisziplin, üben das Leben besser einzuteilen, demütig zu sein und mit kleinen Dingen Freude zu haben…

Interview: Petra Kerschbaumer

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Arbeitsgruppe für Menschen mit dem Spektrum Austismus (ASS):
Diese Arbeitsgruppe trifft sich bei Bedarf (ca. 3 Mal im Jahr). Ziel ist es, den Kindern und Jugendlichen mit dem Spektrum Autismus eine bessere Lebensqualität und die Einbindung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Zudem ist diese Arbeitsgruppe maßgebend daran beteiligt die Einführung eines Kompetenzzentrums für Menschen mit Autismus anzutreiben.